Editionsprinzipien
Die „Historisch-Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters“ trägt in Konzeption wie Präsentation seiner spezifischen Arbeitsweise Rechnung, unterzog dieser seine Texte bis zum letztmöglichen Zeitpunkt umfänglichen Korrekturen und Revisionen.
Sie legt ihr Hauptgewicht deshalb auch nicht mehr auf einen ,letztgültigen‘ Text, wie es etwa an ,Ausgaben letzter Hand‘ orientierte Editionen tun: Vielmehr dokumentiert sie den – oft nur durch die Drucklegung zwangsläufig abgebrochenen – für Stifter charakteristischen Prozess der ständigen Um- und Weiterbearbeitung der Manuskripte und Druckvorlagen.
Für die Sammlungen der Studien wie der Bunten Steine hat die „Historisch-Kritische Ausgabe“ deshalb auch auf den problematischen, weil implicite wertenden Begriff der ,Urfassungen‘ verzichtet und stattdessen zwischen „Journal-„ und „Buchfassungen“ unterschieden, die jeweils gleichberechtigt und in vollem Umfang abdruckt werden. So präsentiert die „Historisch-Kritische Ausgabe“ beispielsweise alle vier Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters (Bände 1,2 / 1,5 / 6,1 / 6,2), wobei die 1998 erschienene 3. Fassung (6,1) einen Text präsentiert, der in dieser Form Lesepublikum und Forschung bislang noch nicht zugänglich gewesen war. Innerhalb der 3. Abteilung, die alle Erzählungen enthält, die Stifter nicht in den Studien oder den Bunten Steinen veröffentlicht hat, wird Stifters letzte, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Erzählung Der fromme Spruch, die in zwei handschriftlichen Fassungen vorliegt, als Paralleldruck (3,2, S. 176–361) präsentiert.
Textgrundlage sind in der Regel die von Stifter autorisierten Erstdrucke. Wenn es solche nicht gibt, wird der Text nach den Handschriften wiedergegeben. Nur, wenn weder Autorhandschriften noch autorisierte Drucke überliefert sind, wird auf spätere Editionen – zum Beispiel von Johannes Aprent – zurückgegriffen. In jedem Fall werden Stifters Texte in Orthographie und Interpunktion zeichengetreu wiedergegeben; es wird nicht normalisiert oder modernisiert. Lediglich Stifters Abkürzungen dß für „daß“ und u für „und“ sowie die Geminationsstriche über m und n werden stillschweigend aufgelöst, in den „Schriften“ zu Literatur und Politik, zu Bildung wie zur Bildenden Kunst (8. Abteilung), den „Amtlichen Schriften zu Schule und Universität“ (10. Abteilung) sowie den Briefen Stifters (11. Abteilung) wird die Schreibung „u“ beibehalten.
Emendationen werden restriktiv gehandhabt und beschränken sich in aller Regel auf die Korrektur von Setzfehlern; sie werden im edierten Text durch eine dem emendierten Wort vorangestellte exponierte Crux (+Text) angezeigt. Über Einzelheiten im Zusammenhang mit den Emendationen wird im jeweiligen Apparat Auskunft gegeben.
Bei komplizierteren genetischen Zusammenhängen wird mit den Stufensymbolen (1), (2), (3) usf. sowie (a), (b), (c) usf. gearbeitet. Dabei finden sich in der Regel auf den Stufen (1) bzw. (a) Tilgungsklammern, die alle im Übergang zu der nächsten Stufe entfallenden Textkomponenten umschließen. In den Stufen (2) bzw. (b) sind die ersetzenden Textkomponenten mit Einfügungszeichen umschlossen, die im Übergang zu Stufe (3) bzw. (c) entfallenden Textteile wiederum mit Tilgungsklammern und so fort. Die in Folgestufen nicht gekennzeichneten Textteile sind aus der vorhergehenden Stufe unverändert übernommen.
Umfangreiche Varianten, auch wenn sie sich über mehrere Druckseiten erstrecken, werden in der Regel nicht aufgeteilt, damit die Möglichkeit der zusammenhängenden Lektüre gegeben bleibt. Bleistiftmarginalien in den Handschriften, die sich nicht eindeutig dem Text der Grundschicht zuordnen lassen, werden in Fußnoten mitgeteilt.
Die im Apparat und im Kommentar verwendeten Abkürzungen werden in jedem Band in einem eigenen Abkürzungsverzeichnis aufgeschlüsselt. Dokumentiert der Apparat Emendationen, die handschriftliche Überlieferung, Varianten, Transkriptionsbeispiele sowie die Arbeitsweise Stifters, enthält der Kommentarteil neben allgemeinen Erläuterungen und einem detaillierten Einzelstellenkommentar Informationen zu Entstehung, Rezeption und Anregungen, die Stifter zu Konzeption und Niederschrift seiner Texte führten. So enthalten die Kommentarbände zum Witiko (5,4 und 5,5) neben dem Einzelstellenkommentar und Informationen zur handschriftlichen Überlieferung Überblickskommentare zur Entstehung, zu Stoff und Quellen, zur Gattung des historischen Romans, zu Stifters Geschichtsauffassung und schließlich zur zeitgenössischen Rezeption wie zur Selbstkritik Stifters.
Mit der Trennung von Text- und Apparatbänden innerhalb der „Historisch-Kritischen Ausgabe“ sollte keineswegs eine isolierende Einzellektüre gefördert, sondern vielmehr ein leichteres paralleles Studium ermöglicht werden: „Text und Apparat sind integrale, nicht voneinander zu trennende Bestandteile der Edition, sie sind aufeinander bezogen und sollten auch zusammen benutzt werden.“[1] (Hettche).
Ein spezifisches Editionsproblem bilden die in der Stifter-Philologie so genannten „abgelegten Blätter“, also jene von Stifter aus der handschriftlichen Druckvorlage aussortierten Seiten (mit oft nur minimalen Varianten), deren Umfang etwa im Falle des Witiko rund 800 „abgelegte Blätter“ umfasst. Die Innsbrucker Editoren Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller beschritten innerhalb der „Historisch-Kritischen Ausgabe“ hier editorisches Neuland, indem sie das umfangreiche handschriftliche Material dieser „abgelegten Blätter“, das in seine Gänze selbstverständlich zu dokumentieren ist, dabei aber mehrere Bände gefüllt und so die Grenzen konventioneller Edition in Buchform zweifellos erreicht, wenn nicht gar gesprengt hätte, in elektronischer Form bearbeiteten. Während Band 5,4 (S. 39–78) neben Stemma und ausführlichen Erläuterungen ausgewählte Transkriptionsbeispiele präsentiert, sind die vollständigen Transkriptionen der Stifterschen Handschriften im Internet abgelegt, wo sie unter der Adresse http://germanistik.uibk.ac.at/stifter/witiko allgemein zugänglich und einsehbar sind. Gleiches gilt für die von Walter Hettche transkribierten „abgelegten Blätter“ innerhalb des Nachsommer- Apparats, die in einer den Bände 4,4 und 4,5 beigelegten CD-Rom überprübarbar sind, während im Rahmen eines Sonderprojekts innerhalb der in Salzburg erarbeiteten 6. Abteilung ein elektronischen Vergleich sämtlicher vier Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters erarbeitet werden soll.
[1] Walter Hettche: „... die lezte Ausfeile ist das Feinste, und bedingt die Schönheit allein.“ Stifters Arbeit an den „Bunten Steinen“ und ihre Dokumentation in der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Universität Antwerpen 1993). Acta Austriaca-Belgica 1, S.77–85, hier S. 81f.